Hana Jensel: Zonenrinder. Das Original
Eine
junge Frau hat einen weinerlichen Schulaufsatz geschrieben. Die Hintergründe
sind uns bekannt - die hat uns Hana
Jensel im Interview verraten.
Ein brisantes Thema, das mit der Aufarbeitung Ost und den Rindern. Die
folgende Textstelle aus dem Hörbuch "Zonenrinder.
Das Original" belegt
das eindrucksvoll.
Am
letzten Tag meiner Kindheit, ich weiß es noch genau, ich
war elf Jahre und zwei Monate und einen Tag und zwei Stunden und
37 Minuten alt, verließ ich gemeinsam mit meinem Vater am
frühen Morgen das Haus. Es war noch dunkel, man sah nichts
vor dem Gesicht, Schnee fiel viel vom Himmel. Der war damals noch
braun.
Ich musste vorher – also drin und nicht draußen – dicke
Unterhosen anziehen, dazu alle meine Pullover unter allen meinen
Anoraks. Das waren nicht viele, es gab ja damals nichts. Und dicke
Gummistiefel – so welche mit Fell und Lappen drin. Das war
genau das Material, aus dem auch die DDR-Teddybären gemacht
wurden. Wie viele Teddybären mussten wohl für meine Gummistiefel
sterben?
Keiner sagte mir, wohin es hingehen sollte. Es ging zur Montagsdemo,
aber die war erst abends. Wir mussten nicht lange warten, die Straßenbahn
fuhr nicht so schnell, da alle Energie in die Beheizung der Waggons
ging. Ich wusste nicht, was Montagsdemo bedeutete. Ich wusste nur,
was Demo war – Depeche Mode. Und die sollte man nur noch
montags hören? Bisher war Montag immer der Tag, wo die Woche
anfing. Für uns. Für alle. Wir hatten unseren Montag,
der Montag hatte uns. Dieser Montag war der letzte Tag meiner Kindheit – ich
wiederhole das, um es richtig deutlich zu machen.
Heute sind diese letzten Tage unserer Kindheit, von denen wir
damals noch nicht wussten, dass die insgesamt die hinterletzte
sein würde, für uns wie Eingänge in eine alte Zeit,
die um ist wie die mit den Sauriern und wo wir nicht mehr wissen,
wie wir sagen sollen.
Die Uhren gingen noch anders – ohne Quarz und obwohl aus Ruhla. Es roch überall
nach Bitterfeld. Dort hatten wir unseren eigenen Silbersee. Wenn wir da Filme
reinschmissen, kamen die entwickelt wieder raus.
Davon ist nichts übrig geblieben.
Uns ängstigt das, dass nichts geblieben ist. Wir wollen wieder
wissen, wo wir herkommen und vor allem wo wir hinkommen und davor
noch das Wie. So werde ich mich und wir uns für mich und Euch
auf die Suche machen, auch wenn ich mir und wir uns nicht sicher
bin und sind, den Weg zurück zu finden, weil mir und uns oft
die Tränen dabei zu schaffen machen werden.
Mit unseren Osteltern lief es nicht gut. Zu Weihnachten gab’s
in unseren Haushalten Topflappen für unsere Mama und Rasierwasser
für unseren Papa, und nach unserem Essen unser Fernsehen.
Nach der Wende ging es unseren Eltern schlecht. Meine Mutti machte
sich zum Beispiel selbständig als Abrissunternehmerin und
mein Vati wurde Beamter in der Abrissabteilung des Bauamtes. Dann
wollten sie nichts mehr von mir wissen. Deshalb schreibe ich das
jetzt hier auf. So! Es sollen ruhig alle erfahren.
Dabei war der Osten davor sehr toll. Wir erinnern uns: Wir hatten
Leckermäulchen, Fetzer, Maracuja-Brause und Fass-Brause, auch
Lenin-Schweiß genannt. Unsere Apfelsinen sahen wie Limetten
aus, nur größer, und sie schmeckten auch so. Und wir,
die wir an der Grenze wohnten, hörten es ab und zu lustig
im Wald knallen.
Immer wenn Pioniergeburtstag war, war ich sehr aufgeregt. Ich
band mir das Halstuch schon in der Nacht vorher um – ganz
fest – und manchmal wäre ich dann fast nicht mehr aufgewacht.
Ich schlief im Stehen und übte die ganze Nacht über den
Pioniergruß. Am nächsten Tag war Appell in der Schule
und ich konnte ihn sehr gut. Dafür gab es Pionierabzeichen,
die man von der Pionierleiterin angesteckt bekam, was an der Brust
sehr piekte. Noch heute kann ich Euch die Stellen zeigen.
Besonders gern wurde man für sportliche Erfolge ausgezeichnet.
Für Luftgewehrschießen auf kleine BRD-Bürger auf
Pappscheiben und für das Schmeißen echt aussehender
Handgranaten, die natürlich nicht scharf waren. Belohnt wurden
wir, wenn wir im Winter beim Manöver „Schneeflocke“ mit
den Kampfgruppen schnell durch den Wald rannten, und im Sommer
wie Vögel über die Eskaladierwand flogen.
Ich habe nie eine Auszeichnung erhalten, weil ich Tischtennis
spielte und nicht gewinnen konnte, da man keine gute Tischtennisschläger
bekam und wir mit Abendbrotbrettchen spielten und Arbeiterkinder
mit großen Händen nur mit ihren Händen. Und weil
diese Hände wirklich sehr groß waren, sah keiner einen
Stich. Sowieso nicht, der Stich war ja von Drüben.
Außerdem spielten wir nicht viel Tischtennis, da die Tischtennis-platten
gleichzeitig die Tafeln waren, die in unseren Klassenzimmern an
der Wand hingen und für den Unterricht gebraucht wurden. Nur
in unseren Ferien spielten wir mehr. Im Ferienlager, was für
uns alle eine heimliche Fortsetzung der Schule mit anderen Mitteln
war. Damit es nicht so auffiel, aber ohne Tafeln. Ferienlager waren
meistens an der Ostsee gelegen, denn unsere Lehrer gingen oft baden.
Überhaupt habe ich mich als Kind immer sehr nach der Ostsee
gesehnt. Das heißt aber nicht, dass ich damals schon ins
Wasser gehen wollte. Ich bevorzugte den Blick vom Land, genauer
von Rügen. Noch heute heißt mein Varadero Glowe. Auch
wenn eine Redensart damals besagte: „Jeder Doofe fährt
nach Glowe“.
Unsere Eltern verbrachten ihren Urlaub nie woanders. Wir selber
hatten noch keine Fahrerlaubnis, sonst wären wir garantiert
woanders hin gefahren. An den Kulkwitzer See oder ein benachbartes
Tagebaurestloch. Einen Hühnergott habe ich an beiden nie gefunden.
Das mit dem regelmäßigen Ostseeurlaub ging freilich
nur, weil unsere Eltern Beziehungen hatten und auf der Parteischule
in Ballenstedt waren. Außerdem hatte mein Vater mal was mit
der BGL’erin in seinem Betrieb gehabt.
Heute sind alle Orte an der Ostsee käuflich, viele Häuser
und Grundstücke werden dort verkauft und gekauft. Das Seebad
Binz wirbt mit dem Slogan „Ich Binz“. Wo soll das enden?
Du Putbus, Er Saßnitz, wir Göhren? Paradiesische Orte
sind nur noch dazwischen, vielleicht in den Baugruben, wo Urlauberkinder
in Pfützen planschen, und ihre Eltern darüber wachen
sollten, dass sie nicht mit in die Fundamente kommen.
Die große Zeit des Reisens kam erst später und die
Zeit des Verreisens, wenn man sich in der Fremde verfuhr. Da war
ich dann Au-Pair in Bordeaux, wo alle Freunde aus Italien und Frankreich
von ihrer Kindheit erzählten. Ich erzählte von der Olsenbande,
Timur und seinem Trupp und Alfons Zitterbacke. Aber die kannte
keiner. Da musste ich sehr weinen.
Wieder musste ich weinen, weil man mich immer mehr für einen
Westler hielt. Man erkannte mich nicht mehr. Ja, ich bin sogar
selbst in diesen Tagen oft an mir vorbeigelaufen.
Aber die Deutsche Demokratische Republik war noch nicht verschwunden.
Ich hatte noch eine Tüte auf dem Dachboden mit Pionierabzeichen,
Schwimmstufe und einem Fetzer drin, den ich aber jetzt doch mal
irgendwann essen muss.
Generell sind wir über den Berg. Die ersten Jahre in Freiheit
war viel los. Viel Hin und Her und Hick und Hack und Ost und West
und so. Wir sind die letzten Ossis aus Westdeutschland – und
man kann uns erkennen, weil wir so riechen und so aussehen, wie
wir aussehen, und uns auch so benehmen. Richtige Hornochsen, dumme
Kühe, Zonenrinder!
Ich habe erst neulich eine alte Kassette weggeschmissen, die mir
mein Freund John bei unserer Freundschaft geschenkt hatte. Es waren
die Pet Shop Boys drauf mit den Liedern „Go West“ und „West
End Girls“. Die Kassette leierte – sicher aus Prinzip,
es war noch eine Ost-Chromkassette von ORWO.
So, und nun ist Frühling geworden. Die Vögel, die Bäume – das
ganze Programm. Der Abend ist lau, die Blüten verduften. Jetzt
unter freiem Himmel Fußballspielen oder ein Buch lesen, das
wäre was. Und wenn in dem Buch eine blöde Seite ist,
reißt man sie raus, faltet einen Flieger draus und schießt
sie zum Mond.
Hana gibt
es jetzt auch auf CD!
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